Wir brauchen den Frieden in unserer Nachbarschaft


28. Februar 2024 Auszug aus dem Interview von Viktor Orbán am 23. Februar 2024

Am Freitagmorgen (23.Februar 2024) sprach Ministerpräsident Viktor Orbán in der Sendung „Guten Morgen, Ungarn!“ von Kossuth Radio auch über die Wahl des Staatsoberhauptes, den Kinderschutz und den russisch-ukrainischen Krieg.

  • Neulich hat der Europäische Rat für Außenpolitik eine Umfrage durchgeführt, aus der hervorging, dass nur 10 % der Europäer glauben, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen kann. Vor kaum zwei Jahren lag dieser Prozentsatz jedoch noch viel höher, und die westeuropäische Gesellschaft war wesentlich optimistischer. Was hat sich geändert?

Dies ist ein sehr schwieriges Thema, denn Russland hat die Ukraine angegriffen, und das wirft auch eine Reihe von prinzipiellen und moralischen Fragen auf, aber der Krieg ist im Grunde dennoch eine Frage der Realpolitik. Es gibt also Zahlen, es gibt Kräfteverhältnisse, und nicht die Absicht ist entscheidend, sondern die Fähigkeit, die Konsequenz und das Ergebnis. Das ist also der schwierige Teil unseres Berufs, die Unterscheidung zwischen Frieden und Krieg, ob man gewaltsame Mittel zur Erreichung von Zielen wählen darf, wann man keine gewaltsamen Mittel wählen darf, wie man sie vermeidet und so weiter.

Die Realitäten waren vom ersten Moment an offensichtlich. Deshalb hat Ungarn immer gesagt, was es gesagt hat. Natürlich hat Russland die Ukraine angegriffen, und diese Frage muss geklärt werden, aber man darf nicht in einen Krieg hineingeraten.

Der Westen kann also nicht in einen Krieg verwickelt werden, bei dem aufgrund grundlegender mathematischer und realer Fakten offensichtlich ist, dass es auf dem Schlachtfeld keine Lösung gibt, weil die Ukraine nicht in der Lage sein wird, die Russen zu besiegen, egal wie viele Werkzeuge und Waffen wir ihnen geben.

Wenn sich die westlichen Länder nicht mit ihren eigenen Armeen in diesen Krieg einmischen, dann wird diese militärische Überlegenheit auf russischer Seite bestehen bleiben, aber wir können zumindest mit Sicherheit sagen, dass es keine militärische Überlegenheit auf Seiten der Ukraine geben wird. Die westeuropäischen Länder aber, da die NATO durch ihre allererste Entscheidung deklariert hat, dass sie keine Truppen entsenden will, dass sie nicht miteinbezogen werden will, dass sie keinen NATO-russischen Krieg will, dass sie nicht will, dass westeuropäische Truppen auf ukrainischem Boden stationiert werden und mit den Russen in einen Kampf kommen, also nachdem wir das ausgeschlossen hatten, war von da an klar, dass

Wer das versucht, glaube ich, der schlägt mit seiner Axt in einen Baum, den er nicht fällen oder die Axt dann nicht mehr aus dem Baum herausziehen kann, sie wird darin steckenbleiben. Und hier geht es nicht um Kindereien,

denn es sterben Hunderttausende von Menschen, wir sprechen von Witwen, wir sprechen von Waisen, wir sprechen von zerstörten Städten, sowohl auf russischer als auch auf ukrainischer Seite, es gibt schreckliche Zerstörungen, Werte gehen verloren, unersetzliche Menschenleben gehen verloren, dies ist also eine schwere Verantwortung.

Und im Namen Ungarns glaube ich, dass die moralisch richtige Position auch darin besteht, die Realität offensichtlich zu machen: Es gibt keine Lösung für diesen Konflikt auf dem Schlachtfeld. Wir brauchen einen Friedensprozess, einen neuen Friedensprozess, der diesen Konflikt beendet und gleichzeitig ein Europa für uns schafft, das langfristig lebenswert ist.

Ich verstehe, dass es zwischen den Deutschen und den Russen noch uns und die Polen gibt, und die Franzosen sitzen an der Atlantikküste, und die Briten sitzen in der Sicherheit einer Insel, so dass das Leben aus dieser Perspektive ein anderes Bild bietet. Aus ungarischer Sicht sieht es jedoch so aus, dass eine Weltmacht auf dem Territorium eines Nachbarlandes einen schweren Krieg führt, einen Krieg, der Hunderttausende von Menschenleben fordert, und wenn dieser Krieg näher an uns herankommt, dann können wir mit Sicherheit sagen, dass er rascher und unmittelbarer eine Auswirkung auf uns haben wird, als auf die Franzosen oder die Deutschen oder die Briten.

Deshalb können wir, wir Ungarn, den britischen, französischen und deutschen Standpunkt nicht teilen, der darauf abzielt, eine militärische Lösung zu erzwingen. Wir brauchen den Frieden in unserer Nachbarschaft. Das ist für uns eine existenzielle, eine menschliche Seinsfrage, dass hier Frieden und Sicherheit herrschen sollen.

Und das ist unmöglich mit einem Krieg in der Nachbarschaft, und einer der Teilnehmer an diesem Krieg ist noch dazu Russland, das eine Atommacht ist. Das ist ein gewaltiges Risiko für die Völker Mitteleuropas, unter ihnen auch für Ungarn. Die richtige moralische Haltung aus ungarischer nationaler Sicht ist also ein Waffenstillstand und Friedensverhandlungen.

  • Kann sich die Position der Europäischen Union überhaupt in diese Richtung ändern?

Der Westen steckt mit dem Fuß in dieser Grube fest. Er ist hineingetreten und kann ihn nicht wieder herausziehen. Die öffentliche Meinung wird es schon richten. Ich sehe also nicht, dass die führenden Politiker, die ich kenne, zu der Schlussfolgerung kommen, die sich wie folgt zusammenfassen lässt: Wir haben eine Kalkulation angestellt, wir haben dabei einen Fehler gemacht, es stimmt zwar, dass wir das, was wir getan haben, auf Wunsch und Ermutigung der Ukrainer getan haben, aber wir haben die Situation falsch eingeschätzt. Daraus folgt, dass wir mit dem Risiko eines andauernden Krieges, einer ständigen Ausweitung des Krieges ins Auge blicken müssen.

Denn der Steuerzahler wird nach einiger Zeit doch noch fragen: Warum schickst du, mein lieber Freund, Geld in einen Krieg, den derjenige, den du unterstützt, keine Chance zu gewinnen hat? Was ist das für eine Verantwortung gegenüber Deinen eigenen Bürgern oder ist das Verantwortungslosigkeit? Dieser Moment wird kommen. Und dann werden die führenden Politiker Westeuropas keine andere Wahl haben, als sich irgendeine Ausrede auszudenken und zu sagen, dass es jetzt wirklich keine Chance mehr für eine militärische Lösung gibt, lasst die Politiker wieder kommen, lasst die Diplomatie kommen, lasst einen Waffenstillstand zu und lasst Friedensgespräche zu. Es wird nicht leicht sein, diesen Irrtum einzugestehen.

Das Interview wurde von Zsolt Törőcsik geführt.

Quelle

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